Nachrichten aus dem Kreisverband
Christian Lindner und die Wirtschaftswende
Der entlassene Bundesfinanzminister hat ein 18-seitiges Papier vorgelegt, dass die Wirtschaftswende in der Bundesrepublik erbringen und ein Konzept für Wachstum und Generationengerechtigkeit sein soll (1). Lindner sieht zwar auch konjunkturelle Probleme, aber er geht vornehmlich von strukturellen Schwächen, Versäumnissen der Vergangenheit und schlechten politischen Rahmenbedingungen unserer Wirtschaft aus. Auf dieses Papier haben eine Vielzahl von ParteivertreterInnen und Medienleuten ablehnend und vielfach auch zustimmend geantwortet und häufig wurde in dem Alleingang von Lindner der Beginn des Endes der Regierung Scholz gesehen. Das ist nun auch passiert, indem Bundeskanzler Scholz Lindner entlassen hat. Scholz kündigte für Januar die Vertrauensfrage an und im März 2025 ist mit einer Neuwahl zu rechnen Es ist trotzdem die Aufgabe der Linken, eine oberflächliche Kritik an dem Papier zu vermeiden und auf Basis der Kritik der politischen Ökonomie und der Darstellung der Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise eine Kritik an Lindners Papier vorzulegen. Denn dieses Konzept von Lindner wird weiterhin eine Rolle in der etablierten Politik spielen.
Wir müssen davon ausgehen, dass seit der Mitte der 70er-Jahre ein Übergang von einem beschleunigten Wirtschaftswachstum (beschleunigte Kapitalakkumulation) hin zu einer strukturellen Überakkumulation stattgefunden hat. Damit ist gemeint, dass Überkapazitäten, die am Ende eines normalen Konjunkturzyklus entstehen nicht mehr abgebaut werden, sondern chronisch werden, das heißt, im nächsten Aufschwung nicht oder nur unzureichend abgebaut werden. Das liegt daran, dass wir es im Kapitalismus mit einer Produktion von Mehrwert durch die Arbeitskräfte zu tun haben, also die Arbeitskräfte Mehrarbeit leisten und dieser Teil ihrer Wertschöpfung vom Kapitalisten unentgeltlich angeeignet wird. Nur darum lässt der Kapitalist überhaupt produzieren. Diese Produktionsweise enthält allerdings einen immanenten Widerspruch zwischen der Rate des Mehrwerts und der Masse des produzierten Mehrwerts, das bedeutet, die für die industrielle Produktion produktivitätsbedingte Abnahme des Umfangs der wertschöpfenden Arbeit wurde bis zu den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts kompensiert oder überkompensiert durch ein gleichzeitiges Wachstum des gesellschaftlichen Gesamtkapitals. Das hatte zur Folge, dass zwar die Durchschnittsprofitrate tendenziell sank, aber die Masse des gesamtwirtschaftlichen Profits zunahm (2). Es kam hinzu, dass nach dem 2.Weltkrieg die Verteilung von Einkommen und Vermögen vor allem auch durch staatliche Interventionen sich zugunsten der Arbeitenden entwickelte. Seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts trat allerdings ein Umschwung ein. Das Wachstum des gesellschaftlichen industriellen Kapitals wurde unzureichend, die Überkapazitäten wurden chronisch und der Fall der industriellen Profitrate veranlasste einen Teil des Kapitals an den Finanzmärkten durch Kurssteigerungen bei Wertpapieren und Spekulationen das Kapital günstiger zu verwerten. Der sogenannte Finanzkapitalismus war geboren. Die Finanzkrise 2007/2008 setzte dieser Entwicklung zwar kurzzeitig ein Ende, aber änderte nichts an den zugrundeliegenden Widersprüchen der kapitalistischen Produktionsweise.
Von diesen strukturellen Widersprüchen des Kapitalismus weiß die bürgerliche Ökonomie und damit auch Christian Lindner nichts. Sie setzen ihre Betrachtung an der Oberfläche der Gesellschaft an, wo die Gesetze der Mehrwertproduktion nicht mehr sichtbar sind, sondern die Produktion als ein Zusammenspiel von verschiedenen Faktoren der Wertschöpfung erscheint. Arbeit, Kapital und der Boden als die Produktionsfaktoren sind bei dieser Sichtweise alle für die Wertschöpfung zuständig und es ist dann eine Frage der Macht, welcher Faktor und in welcher Höhe er an der Verteilung beteiligt wird. Auch Christian Lindner sieht ein strukturelle Wachstumsschwäche in Deutschland. Er meint damit aber nicht die Strukturprobleme des Kapitalismus, sondern fünf Punkte, die seiner Ansicht nach das Wachstum der Wirtschaft bremsen.
1.Christian Lindner führt die Wachstumsschwäche und die abgeschwächte Produktivitätsentwicklung auf staatliche Regulierungen und Bürokratien zurück.
2. Ein zu geringes Arbeitsvolumen liegt nach Lindner daran, dass es einen de-mografischen Wandel und zu wenig Arbeitsanreize gebe.
3. Der Klimaschutz führe zu einer „verfrühten“ Abschreibung fossiler Energieträger und zur Bindung von staatlichen Finanzmitteln für Subventionen.
4. Laut Christian Lindner habe die Ausdehnung des Wohlfahrtsstaates zur Unterfinanzierung von Infrastruktur, Digitalisierung und Bundeswehr geführt.
5. Der Verlust der Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft komme nach Lindner auch dadurch zustande, dass im internationalen Wirtschaftsverkehr der Protektionismus unsere Wirtschaft überproportional belaste.
Die Erklärung für die Probleme der aktuellen Wirtschaftsentwicklung sieht Lindner allesamt auf der Ebene der gesellschaftlichen Einkommens- und Vermögensverteilung und der staatlichen Politik angesiedelt. Er kann nicht auf die Grundstrukturen und Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise zurückgehen, weil er in den Bewusstseinsformen der Oberfläche dieser Ordnung verhaftet ist. Die Oberfläche gibt nicht mehr den Blick frei für die zugrundeliegende Produktion von Mehrwert. Die Produktion von Mehrwert wird auf verschiedenen Ebenen der Struktur dieser Produktionsweise verschleiert bis schließlich nur noch die Sichtweise von Produktionsfaktoren übrig bleibt, die vermeintlich alle zur Wertschöpfung beitragen. Auf dieser Basis können dann Kapitalvertreter und Ihre Repräsentanten in der Politik noch weitere Verdrehungen der ökonomischen Realität vornehmen. Strukturelle Probleme dieser Wirtschaftsordnung gibt es für Christian Lindner nur als Probleme, die die Profitorientierung der Gesellschaft untergraben. Linke sollten somit auf die kapitalistischen Grundstrukturen und ihre Gesetzmäßigkeiten zurückgehen und im Gegensatz zu Lindner folgende Punkte herausstellen:
1.Die Entwicklung der Produktivkräfte ist die treibende Kraft der Produktion von Mehrwert. Auf diese Weise wird der Mehrwert des Kapitalisten, also die Mehrwertrate und Mehrwertmasse gesteigert. Insbesondere die sogenannte relative Mehrwertproduktion wird durch Produktivkräfte gesteigert. Das bedeutet, die notwendige Arbeitszeit, in der der Lohnabhängige den Wert seiner Arbeitskraft schafft, wird gesenkt, und die Mehrarbeitszeit zur Produktion des Mehrwertes gesteigert. Allerdings hat die Steigerung der Produktivkräfte zur Folge, dass die Arbeitskräfte(v) relativ zum Maschineneinsatz(c) langsamer wachsen und damit die Profitrate m/c+v tendenziell fällt. Die Profitmasse kann gesteigert werden solange v als Mehrwertproduzent wächst und es ergeben sich dann Probleme, wenn, wie seit der Mitte der 70er Jahre, das nicht mehr geschieht. Jetzt fällt nicht nur die Profitrate, sondern es stagniert oder sinkt auch die Profitmasse und es folgt die Flucht auf die Finanzmärkte eines Teils des Kapitals und eine Verminderung der gesellschaftlichen Produktivkraftentwicklung. Es sind also nicht staatliche Regulierungen und Bürokratien die diese Entwicklung hervorrufen wie Lindner meint.
2.Ein beliebtes Argument von Kapitalvertretern und ihren Repräsentanten Arbeitslosigkeit zu erklären besteht darin, Arbeitslose hätten zu wenig Anreize eine Arbeit aufzunehmen. Damit wird das Problem als ein individuelles und durch staatliche Sozialpolitik befördertes Problem dargestellt. Es wird von Lindner und anderen Repräsentanten nicht erkannt, dass im Rahmen eines Konjunkturzyklus, der seit den 50er Jahren 4-5 Jahre umfasst, Überkapazitäten und Wachstumsrückgang bzw. Arbeitslosigkeit das Ende eines Konjunkturzyklus darstellen. Angebot und Nachfrage werden durch die Krise wieder aneinander angepasst und mit der Steigerung der Profitrate wird ein neuer Zyklus in Gang gesetzt. Was sich seit den 70er Jahren gewandelt hat, ist die Tatsache, dass eine Überakkumulation entstanden ist, die nicht oder nur teilweise am Ende des Zyklus abgebaut wird, sondern eine langfristige Tendenz ist. Der langfristige Fall der Profitrate wird nicht mehr durch ein höheres Kapitalwachstum kompensiert mit all ihren sozialen Folgen. Soziale Leistungen, infrastrukturelle Ausgaben, Ausgaben für Klimaschutz, die Förderung der Digitalisierung etc. werden durch die etablierte Politik zurückgeschraubt, das heißt, die Sparpolitik des Staates ist Trumpf. Man muss nicht Vertreter der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie sein, um zu sehen, welche katastrophale Folgen diese Politik hat. Ein Blick in die Geschichte und Blick auf die Theorie von Keynes, der das Desaster einer Sparpolitik dargestellt und eine staatlich geleitete Investitionspolitik gefordert hat, sollte genügen. Davon ist Christian Lindner aber weit entfernt.
Im Gegenteil, Lindner sieht drei Handlungsfelder der Politik.
1.Eine neue Dynamik der Wirtschaft soll durch den Stopp neuer Regulierungen, Abschaffung des Solidaritätszuschlages, Senkung der Körperschaftssteuer und weitere Steuersenkungen und Abgabensenkungen für Unternehmen erreicht werden.
2. Um die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten, soll die Exporte von CO2- Kosten befreit und ein Ausstieg aus der Subventionierung erneuerbarer Energien erfolgen.
3. Nach Lindner gilt es, den Arbeitsmarkt zu mobilisieren. Das bedeutet für ihn, Arbeitsanreize zu schaffen, die Arbeitszeiten auszuweiten, Steuerzahlerinnen und Steuerzahler zu entlasten, die Sozialversicherungsbeiträge in Sinne folgender Generationen zu senken, das Bürgergeld zu kürzen und irreguläre Migration einzudämmen.
Deutlich wird also, wer ein neues Wachstum der Wirtschaft finanzieren soll. Obwohl ein Blick auf die Einkommens- und Vermögensstatistiken reichen würde, um die krasse Fehlentwicklung in der Einkommens- und Vermögensverteilung zu erkennen, schützt Lindner mit seinem Konzept die Besserverdienenden und SpitzenverdienerInnen. Die sogenannten „Leistungsträger“ sind es, die Lindner mit seiner Politik im Auge hat und er bekommt dafür schon jetzt Beifall von führenden MitgliederInnen der CDU/CSU. Es dürfte keine Unterstellung sein, dass Lindner, sofern seine Partei die nächsten Bundestagswahlen übersteht, auf eine Koalition mit den Konservativen zusteuert.
Im Gegensatz dazu muss die Linke ein Bündnis mit fortschrittlichen Teilen der SPD, Grünen, Gewerkschaften und alternativen Bewegung anstreben. Folgende Vorschläge und Vorstellungen sollte die Linke präsentieren:
1.Ein linkes Konzept muss zeigen, wie eine kurz- und mittelfristige Reformagenda zu langfristigen Strukturveränderungen des Kapitalismus führen muss und wie diese Schritte miteinander zu verknüpfen sind. Der erste Schritt besteht darin, die marktbestimmte Verteilungsungerechtigkeit von Einkommen und Vermögen anzugehen. Die Einkommensumverteilung zu Gunsten unterer Einkommensklassen wird die konsumtive Endnachfrage steigern und die Konjunktur stabilisieren. Diese Erfolge sind kurzfristig wirksam und erfahrbar. Die schiefe Verteilung zwischen Arbeitslöhnen und Profit/Vermögenseinkünften wird inzwischen von größeren Bevölkerungsteilen nicht mehr als unantastbar angesehen und es wächst die Erkenntnis, dass diese Verteilung nicht auf besondere Leistungen zurückgeht. Das gilt auch und gerade für völlig überhöhte Managergehälter bei großen Kapitalgesellschaften. Die atypischen Beschäftigungsverhältnisse (Minijobs, Midijobs und unfreiwillige Teilzeitarbeit) sind zu bekämpfen. Es sind die Untergrabung von Mitbestimmungsrechten in den Betrieben anzugehen, der Mindestlohn weiter zu erhöhen und die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen zu stärken.
2. Es muss deutlich werden, dass im Finanzkapitalismus die kurzfristige Profitmaximierung, Kostensenkungsstrategien (Cost-cutting) und der Abbau von Arbeitsplätzen im Vordergrund stehen. Staatliche Politik der Humanisierung der Arbeitswelt und eine sozial-ökologische Transformation der Gesellschaft stoßen immer wieder an die Grenze der privaten Kapitalverwertung.
3. Das Ziel sollte eine wirtschaftsdemokratische Organisation der Unternehmen und der Gesellschaft insgesamt sein. Es sind die Demokratiegrenzen der herkömmlichen sozialen Marktwirtschaft zu überwinden, auch im Hinblick auf die Erschließung neuer Produktivkräfte im Sinne der Mehrheit der Bevölkerung.
4. Die Linke muss eine alternative Finanzpolitik ansteuern. Zu einer Steuerreform sollte eine lineare Steuerprogression mit einer Reichensteuer gehören. Eine Vielzahl von Steuervergünstigungen ist abzubauen, sofern sie Besserverdienende und Spitzverdiener betreffen. Die Absetzbarkeit von Betriebskosten gilt es einzuschränken und die Vermögenssteuer und Finanztransaktionssteuer sind einzuführen. Über allem steht die Zielsetzung, die Umverteilung von unten nach oben zu beenden, den jämmerlichen Zustand der öffentlichen Infrastruktur anzugehen und monetäre und reale Transfers für untere und mittlere Einkommensbezieher zu steigern.
5. Die jahrelange Austeritätspolitik und die sogenannte Schuldenbremse haben zu einem beispiellosen Niedergang der öffentlichen Investitionen geführt. Die Konsequenz die Linke daraus ziehen müssen besteht darin, ein massives öffentliches Investitionsprogramm für Bildung, Verkehr, Pflege, Kinderbetreuung, Umwelt und vor allem Arbeitsmarkt aufzulegen.
6. In der Wohnungsfrage muss die Linke drastische Eingriffe vornehmen, den sozialen Wohnungsbau und gemeinnützige Wohnungsbaugenossenschaften besonders fördern und die Privatisierung des öffentlichen Wohnungsbestandes stoppen.
7. Die Hoffnung, dass sich die massive Zuwanderung von Menschen ohne staatliche Eingriffe löst, ist unrealistisch. Dass sich in den letzten Jahren Parallelgesellschaften gebildet haben lag einerseits an unzureichenden staatlichen Dienstleistungen, andererseits aber auch an Ausgrenzungen von Menschen aus Gründen der Konkurrenzangst. Die Linke hat deswegen Eckpunkte zur Lösung des Problems zu nennen, zum Beispiel Maßnahmen zur Erweiterung des Wohnraumbereichs und zum Angebot an Bildungs- und Ausbildungsplätzen. Das ist in eine neue Strukturpolitik des Staates einzuordnen und es muss der Verdrängungskonkurrenz zwischen Einheimischen und Zugewanderten bzw. Flüchtlingen der Boden entzogen werden. Das ist auch ein wichtiges Mittel zur Bekämpfung des Rechtspopulismus.
Damit schließt sich der Kreis. Die Punkte der kurzfristigen und mittelfristigen linken Reformagenda, die noch weiter auszubauen wären, haben allerdings deutlich gemacht, dass wir an der Grenze privater Kapitalverwertung angelangt sind und weitere ökonomische und soziale Verbesserungen nur durch grundlegende strukturelle Veränderungen dieser Wirtschaftsordnung zu haben sind. Ein demokratischer Sozialismus muss gewährleisten, dass die Fehler des realen Sozialismus nicht wiederholt werden, grundlegende gesellschaftliche Entscheidungen nicht einer Planungsbehörde oder Partei überlassen werden, sondern eine weitgehende Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche erfolgt. Das bedeutet auch, eine dezentrale Verteilung von Angebot und Nachfrage über Märkte bei strikter gesamtgesellschaftlicher Regulierung der Märkte und vorherrschendem öffentlichen Eigentum bei Großunternehmen und Kapitalgesellschaften durchzuführen. Das kann sozialistische Marktwirtschaft genannt werden.
(1)Die Grundlage des Aufsatzes ist das Papier von Christian Lindner: Wirtschaftswende Deutschland- Konzept für Wachstum und Generationengerechtigkeit.
(2) Anmerkung: Die Profitrate m/c+v muss tendenziell sinken, weil der Mehrwert (m) durch die Arbeitskräfte (v) produziert wird, aber wegen der Produktivkraftentwicklung (v) langsamer als die Maschinenausstattung (c) wächst. Solange das gesellschaftliche Gesamtkapital und damit auch (v) wächst kann die Profitmasse zunehmen. (beschleunigte Kapitalakkumulation). Wenn das nicht mehr geschieht entsteht eine sogenannte strukturelle Überakkumulation.