Nachrichten aus dem Kreisverband

Das Einfache,das so schwer zu machen ist

Dr.Peter Behnen

DAS EINFACHE, DAS SO SCHWER ZU MACHEN IST (1).

 

Bertolt Brecht bezeichnet in seinem Werk „Die Mutter. Leben der Revolutionärin Pelagea Wlassowa aus Twer“ die Erreichung und den Aufbau des Kommunismus als das Einfache, das so schwer zu machen sei. Richtig an dieser Aussage ist, das haben die Entwicklung der Arbeiterbewegung und später des Realsozialismus gezeigt, dass eine nachkapitalistische Gesellschaftsordnung zu erreichen und aufzubauen mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden ist. Worin diese Schwierigkeiten liegen, haben Generationen von Marxisten inzwischen zu ergründen versucht. In der Regel wurde Bezug genommen auf Schriften von Marx und Engels, ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen, dass sie sich in der Regel noch in einem Forschungsprozess befanden und erst mit dem „Kapital“ von Marx eine entwickelte Darstellung der Grundlage von alltäglichen Bewusstseinsformen in der kapitalistischen Produktionsweise und den Schwierigkeiten ihrer Überwindung vorliegt. Allerdings war es nicht eine vollständige Rezeption des „Kapital“, die für Generationen von Marxisten maßgebend bei der Erfassung von Bewusstseinsformen war, sondern häufig Manuskripte aus dem Forschungsprozess von Marx. In der „Deutschen Ideologie“ beispielsweise wurden von Marx die herrschenden Gedanken in der Gesellschaft als die Gedanken der Herrschenden identifiziert. Zitat von 1845/46:

 

„Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken , das heißt, die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht.“

 

Die Interpretation dieses Auszugs aus der „Deutschen Ideologie“ lud viele Marxisten zu der Vorstellung ein, die Entwicklung zu einem revolutionären Bewusstsein der Arbeiterklasse sei prinzipiell beschränkt und es bedürfe der Nachhilfe durch die Partei der Arbeiterklasse. Lenin zum Beispiel war der Auffassung, die Arbeiterklasse könne selbstständig nur zu „tradeunionistischem“ Bewusstsein kommen und zur Entwicklung von Klassenbewusstsein bedürfe es der Partei der Arbeiterklasse. Damit war der Weg zu einer Verselbständigung der Partei geebnet, mit zum Teil fatalen Folgen für die Arbeiterbewegung. Rosa Luxemburg sah keine Notwendigkeit, eine umfassende Rezeption des „Kapital“ vorzunehmen .Sie meint, alle Probleme des 3.Bandes des „Kapital“ wie zum Beispiel der Fall der durchschnittliche Profitrate, die Aufspaltung des Mehrwertes in Profit, Zins und Grundrente sowie die kapitalistische Konkurrenz seien wichtig vom theoretischen Standpunkt aus betrachtet, aber gleichgültig vom Standpunkt des praktischen Klassenkampfes. Allein die Erklärung des Mehrwertes im 1.Band des „Kapital“ sei relevant für die sozialistische Umwälzung. Eine unvollständige Kenntnis der Kritik der politischen Ökonomie reiche für den Klassenkampf aus. Luxemburg argumentiert, es sei illusionär zu glauben, die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie könne Hinweise geben über die Struktur des alltäglichen Bewusstseins der Arbeiterklasse und für das Bedürfnis der Arbeiterklasse, den Klassenkampf erfolgreich zu führen. Die geistig-kulturelle Entwicklung im Kapitalismus sei durch die herrschende Klasse bestimmt und es könne keine andere geben als die bürgerliche.

 

Dem ist entgegenzuhalten, dass Marx im Rahmen seines Forschungsprozesses eine sehr differenzierte Darstellung der Bewusstseinsformen entlang der Formbestimmungen des Kapitals entwickelt hat. Auf verschiedenen Ebenen der ökonomischen Struktur der Gesellschaft wird die Antriebsfeder des Kapitalismus, die Produktion und Aneignung des Mehrwertes, immer weiter verschleiert. Daraus entsteht eine strukturelle Schranke der Entwicklung des Klassenbewusstseins, die im 3.Band des „Kapital“, wo es um die Oberfläche der Gesellschaft geht, dargestellt wird. Es ist außerdem zu sehen, ob und welche Anknüpfungspunkte zur Überwindung dieser Schranke gegeben sind.

 

Die große Mehrheit der Bevölkerung in der Bundesrepublik befindet sich in einem Lohnarbeitsverhältnis bzw. lebt von Lohnersatzleistungen oder staatlichen Umverteilungen. Das Lohnarbeitsverhältnis ist auch heute strukturbestimmend für den normalen Alltag der Menschen. Das alltägliche Bewusstsein stellt sich als widersprüchlich dar. Einerseits wird das Lohnarbeitsverhältnis als Subordination unter die Regie des Kapitals empfunden, andererseits aber fühlt sich der Lohnabhängige als freier Warenbesitzer, frei zum Verkauf seiner Arbeitskraft oder frei zum Kauf der für sein Leben notwendigen Waren. Hinzu kommen Ambivalenzen aufgrund von politischen, kulturellen, moralischen und religiösen Auffassungen. Marx prägte in Bezug auf das alltägliche Bewusstsein im 3.Band des „Kapital“ den Begriff der Alltagsreligion. Es handelt sich hier um die Darstellung des Gesamtprozesses des Kapitals und die Betrachtung der Oberfläche der bürgerlichen Gesellschaft in seiner ökonomischen Struktur. In ihrem ökonomischen Alltag sind die Gesellschaftsmitglieder Besitzer verschiedener Einkommensquellen, sie beziehen Arbeitslöhne, Profite, Zinsen und Grundrenten. Durch die beständige Reproduktion dieser Verhältnisse entsteht an der gesellschaftlichen Oberfläche der falsche Schein, dass die Wertschöpfung der kapitalistischen Produktion aus dem Zusammenwirken der Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital und Boden hervorgerufen werde .Der wirkliche Zusammenhang, dass nach dem Verkauf der Arbeitskraft der Lohnabhängige den Wert und den Mehrwert schafft, wird verschüttet. Verantwortlich dafür ist auch die Kategorie des Arbeitslohnes, die den Schein hervorruft, nicht die Arbeitskraft, sondern die Arbeit des Lohnabhängigen werde vergütet. Es kommt hinzu, dass nicht gesehen wird, dass der ursprünglich geschaffene Mehrwert in Profit, Zins und Grundrente zerfällt, deren Existenz auf ganz unterschiedliche Weise erklärt wird. Der Profit erscheint an der Oberfläche als Ergebnis der Leistung und der Risikobereitschaft des Kapitalisten, der Zins als besondere Qualität des Geldes und die Grundrente als Ergebnis der Beschaffenheit des Bodens. Im Alltagsleben der Lohnabhängigen ist somit von Bedeutung, dass der freie Wille und die eigene Leistung als maßgebend für ihre gesellschaftliche Stellung angesehen werden. Gleichwohl bleibt ihr Bewusstsein widersprüchlich, weil auch die Herrschaftsverhältnisse in der Produktion, die Arbeitsverhältnissen allgemein und auch die anderen Lebensverhältnisse Teil ihrer täglichen Erfahrungen bleiben. Die illusionären Bewusstseinsformen können sich nach Marx erst auflösen, wenn wirtschaftliche, politische und auch kulturelle Krisen das Fenster zur Überwindung der Schranken öffnen. Marxens Theorie der Mystifikation der Verhältnisse läuft somit darauf hinaus zu verstehen, warum gerade auch im entwickelten Kapitalismus die große Mehrheit der Bevölkerung keinen Anstoß an den Verhältnissen nimmt, sondern sie im Gegenteil als Verwirklichung von Freiheit und Individualität begreift. Das geht so weit, dass die Lohnabhängigen, weil sie als Waren- und Geldbesitzer in die Verhältnisse eingebunden sind, einen ökonomischen Individualismus entwickeln können. Das heißt, sie sind zum Beispiel Lohnabhängige, Hausbesitzer und Aktionäre in einer Person mit all den verschiedenen Ausprägungen im Bewusstsein und sind damit auch erreichbar für Ideologien aus Medien, Politik und Wissenschaft etc.

 

Eine neue Qualität des ökonomischen Alltags und der Bewusstseinsentwicklung hat sich durch den Finanzkapitalismus und den Neoliberalismus entwickelt. Ihre ideologischen Wirkungen lassen sich auch durch die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie erfassen. Die Entfesselung des Kapitalismus hat in verschiedensten Bereichen zu Marktöffnungen geführt mit einer Ökonomie der Unsicherheit als Ergebnis. Das führt zu einem widersprüchlichen Prozess. Einerseits wird nun vom Lohnabhängigen mehr Selbstverantwortung als Verkäufer seiner Ware Arbeitskraft gefordert, er wird zum „Arbeitskraftunternehmer.“ Andererseits werden aber seine Bedingungen im Rahmen der Wertschöpfung und der Verwertung des Kapitals verschärft, es entsteht ein neues Verhältnis von Über- und Unterordnung ohne eine größere soziale Ausgestaltung. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen aus der Zeit des Fordismus, die stärker durch die soziale Absicherung gekennzeichnet waren, werden durch die Flexibilität und Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse zunehmend zerstört. „Führe dich selbst“ lautet die Devise und die Probleme von sozialer Unsicherheit, Erwerbslosigkeit und Armut werden zur Frage der Selbstsorge. Der Neoliberalismus, der seit den 80er Jahren salonfähig wurde, führte zu weitreichenden sozialen Verwerfungen:

 

1.Es wurde das zentrale Glücks- und Leistungsversprechen der „sozialen Marktwirtschaft“ untergraben.

2.Das Aufstiegsversprechen der Nachkriegszeit ist kaum noch einzulösen.

3.Viele Beschäftigte erfahren Kontrollverluste und Perspektivlosigkeit angesichts neuer Steuerungsformen, Marktimperativen und permanenten Umstrukturierungen in den Unternehmen.

4.Diese Erfahrungen führen vor allem bei Teilen der Mittelklasse zur Wut auf das politische Establishment und auf Migranten und führen zu einem Bündel von Ressentiments und einer rechtspopulistischen Entwicklung.

 

Auf dieser Basis sind jedoch auch Ansatzpunkte für eine sozialistische Politik gegeben. Wesentliche Ansatzpunkte sind die Erfahrung von Kontrollverlusten und sozialer Unsicherheit, die umfassenden angegangen werden müssen. Die Qualität von Wohnen, Mobilität, Pflege und Bildung können so politisiert werden, weil gerade auch Leistungsstandards, Qualität, Bezahlung, Arbeitsplatzsicherheit und Motivation im Arbeitsleben mit darüber entscheiden, ob und wie andere gesellschaftlichen Bereiche verändert werden können. Die Stärkung der Wirtschaftsdemokratie ist die Grundlage dafür, dass die Erfahrungen im Arbeitsleben auf andere gesellschaftlichen Bereiche ausstrahlen können. Die Durchlässigkeit von Betrieb und Gesellschaft kann für eine zivilgesellschaftliche Sozialismuskonzeption herangezogen werden. Das setzt allerdings voraus, dass auch das Grundgesetz des Kapitals, also die Schaffung eines größtmöglichen Mehrwerts, hinterfragt wird und politisch angegangen wird. Die Aneignung des Mehrwertes durch den Kapitalisten und die entsprechenden Eigentumsvorstellung, dass Eigentum immer auf Arbeit zurückzuführen sei, wird allerdings durch die Entwicklung des Kapitalismus selbst untergraben. Es hat sich gezeigt, dass nicht durch das Privateigentum an den Produktionsmitteln, sondern durch die gesellschaftliche Arbeit auf großer Stufenleiter ein hohes Produktivitätsniveau erzielt werden kann. Das heißt aber nicht, dass die Vorstellung, Arbeit und eigene Leistung führe zu Eigentum, von der Bildfläche verschwunden ist. Eigentum bleibt eine zentrale Kategorie für die Legitimation kapitalistischer Gesellschaften, das gilt auch für den Besitzer der Ware Arbeitskraft. Insoweit konnte auch der Aufstieg des Neoliberalismus seit den 80er Jahren bei weiten Teilen der Lohnabhängigen Zustimmung finden. Die proklamierte Eigentümergesellschaft geriet erst in Erklärungsnöte, als es zur Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/2008 kam. Die bürgerliche Vorstellung von Arbeit-Leistung-Einkommen und Eigentum geriet aus den Fugen und untergrub auch die Akzeptanz der kapitalistischen Eigentumsordnung. Auch die Idealisierung der „sozialen Marktwirtschaft“, die ebenso in der Linken anzutreffen ist, gerät unter Druck. Es hilft heute kein Zurück zu der Formel, dass Eigentum nur durch eigene Arbeit gerechtfertigt sei, wie es zeitweilig auch von Oskar Lafontaine propagiert wurde. Im Gegensatz dazu ging Marx in seiner Kritik der politischen Ökonomie sogar so weit, im Kredit und den Aktiengesellschaften Ansatzpunkte für die Gesellschaftsveränderung im Kapitalismus zu sehen. Das liegt darin begründet, dass zum Beispiel in der Aktiengesellschaft das Kapitaleigentum und auch die Arbeit getrennt sind von dem direkten Eigentum an den Produktionsmitteln sowie der Geschäftsführung. Damit sieht Marx die Aktiengesellschaften als Durchgangspunkt zur Rückverwandlung des Eigentums der Aktionäre in gesellschaftliches Eigentum. Das bedeutet auch, das die Linke neben dem dominierenden gesellschaftlichen Eigentum in Unternehmen auch andere Eigentumsformen wie Genossenschaftseigentum, Staatseigentum und auch weiterhin Privateigentum für eine nachkapitalistische Ordnung ins Auge zu fassen hat. Ein wesentlicher Grund, weswegen der Realsozialismus gescheitert ist, lag darin, dass Sozialismus und verschiedene Eigentumsformen sowie Marktverhältnisse für nicht miteinander vereinbar erklärt wurden.

 

Es wird zwar die Stunde des dominierenden Privateigentums an den Produktionsmitteln schlagen, auf der Tagesordnung steht allerdings der Aufbau einer Wirtschaftsdemokratie und einer demokratischen Steuerung der Unternehmen. Der Kampf gegen die Dominanz der Vermögensbesitzer und ihren Vertretern in Fonds und Kapitalanlagegesellschaften muss ein wesentlicher Inhalt linker Politik sein. Anzuknüpfen ist an den gesellschaftlichen Erosionsprozessen des Neoliberalismus mittels einer Bündnispolitik zwischen Linkspartei, Grünen, der Sozialdemokratie, Gewerkschaften und alternativen demokratischen Organisationen. Es muss eine emanzipatorische Perspektive gegen die Ansprüche der Kapitaleigentümer sichtbar gemacht werden. Eine solche Politik wird gesellschaftlich nur durchsetzbar sein, indem Löhne, soziale Sicherheit, die Förderung von Qualifikationen, Bildung, Schutz der Umwelt, eine soziale Wohnungspolitik und eine soziale Migrationspolitik und einiges mehr zum Maßstab linker Politik werden und das auch von großen Teilen der Bevölkerung als Wende zum Besseren anerkannt wird. Das wäre dann auch das Ergebnis einer umfassenden Rezeption der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie, die eine Vielzahl von Hinweisen gibt, wie die Schranken der Bewusstseinsentwicklung hin zu einer emanzipatorischen Politik überwunden werden können.

 

(1) Als Grundlage des Aufsatzes dienten:

Karl Marx, Kapital Band 1-3

Karl Marx, Die Deutsche Ideologie

W.I.Lenin, Gesammelte Werke

Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke

Bischoff u.a. Die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft